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Was ist Europa? Eine Frage – viele Antworten!

Was ist Europa? Eine Frage – viele Antworten!

Geschätze Lesezeit: 4 Minuten
Michael
12.02.2024
Eine Geografin, ein Historiker und eine Politikerin sitzen im Flugzeug und schauen auf Europa herab. Da 
kommt ein Stewart zu ihren Plätzen und fragt … Was der Einstieg zu einer klassischen Witzkonstellation
sein könnte, ist nicht unbedingt zum Lachen, wenn die Frage lautete: „Was ist Europa?“ Denn darauf hätte
wohl jede und jeder zu Recht eine andere Antwort.

Die Geografin könnte feststellen, dass Europa, anders als allgemein behauptet, streng genommen kein Kontinent sei. Denn bei diesem handelt es sich erklärtermaßen um eine einheitliche Landmasse. Und als solche hängt Europa fest an Asien, bildet also erdkundlich gesehen mit diesem den eurasischen Kontinent.
Diese Bezeichnung rechtfertigt sich, weil es zwischen Europa und Asien keine eindeutige geografische oder geologische Grenze gibt. Gemeinhin hat man sich auf den Ural als Grenzlinie verständigt – also auf ein maximal 1900 Meter hohes und etwa 2200 Kilometer langes Gebirge im Westen Russlands und den gleichnamigen 2428 Meter langen Fluss. Von da schlängelt sich die Linie durch das Kaspische Meer und das Schwarze Meer zur Wasserscheide des Kaukasus. 
Geografisch gesehen sind Russland, Kasachstan und die Türkei somit zwischen Europa und Asien gesplittet. An dieser Stelle müsste die Politikerin einhaken: Als Staaten sind die drei Länder politische Einheiten und als solche nicht zwischen zwei Kontinenten teilbar. Die Vereinten Nationen (UN) ordnen ihre Mitglieder in regionale Gruppen – und listen Russland vollständig in der Gruppe der osteuropäischen Staaten auf.
Allgemein gilt der Ural – die Bergkette und der Fluss – als Grenze zwischen Europa und Asien.
Allgemein gilt der Ural – die Bergkette und der Fluss – als Grenze zwischen Europa und Asien.
In der Schwebe zwischen erdkundlichen und politischen Einteilungen hängt auch der Inselstaat Zypern: Geografisch liegt er in Asien, als Republik Zypern gehört er zur Europäischen Union (EU). De facto betrifft das jedoch nur den südlichen Teil, solange der nördliche von der Türkei besetzt ist (ein Tatbestand, der von den UN völkerrechtlich nicht akzeptiert wird). 
Die Politikerin denkt in Konstellationen der EU: Wer gehört dazu – aktuell seit dem Brexit 27 Staaten – und wer nicht. Und wer könnte demnächst dazugehören. Je nachdem, wo man die politischen und geografischen Grenzen zieht, liegen 46 bis 49 souveräne Staaten in Europa. Die Angaben schwanken, abhängig davon, auf welcher Internetseite man sich tummelt. Der Europarat listet derzeit 46 Staaten mit insgesamt 676 Millionen Bürgern auf, die sich unter seiner Fahne scharen. Die Türkei gehört dazu, Russland seit dem Angriffskrieg auf die Ukraine nicht mehr. Der Europarat wurde 1949 gegründet und hat sich der „Förderung von Demokratie, Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit in Europa und darüber hinaus“ verpflichtet.
Die drei Schlagworte rufen den Historiker auf den Plan. Sein Europa lebt vom Erbe der alten Griechen und Römer. Immerhin stammt der Name des Subkontinents aus der griechischen Sagenwelt: Der umtriebige Göttervater Zeus verliebte sich in die schöne Königstochter Europa und entführte sie in Gestalt eines Stieres aus dem asiatischen Phönizien (im heutigen Libanon) nach Kreta. Auch die Grundlagen unserer Demokratie stammen aus Griechenland: die Vorstellung von einer Herrschaft des Volkes – auch wenn das zu jener Zeit in der Praxis bedeutete, dass zum Volk nur die freien Männer gerechnet wurden.
In Gestalt eines Stiers entführte Zeus die Königstochter Europa nach Kreta: An die Sage erinnert diese moderne Skulptur von Nikos Koundouros im Hafen von Agios Nikolaos auf Kreta.
In Gestalt eines Stiers entführte Zeus die Königstochter Europa nach Kreta: An die Sage erinnert diese moderne Skulptur von Nikos Koundouros im Hafen von Agios Nikolaos auf Kreta.
Die Römer waren es dann, die aus dem Recht eine Wissenschaft machten und zwischen öffentlichem Recht und Privatrecht unterschieden. Grundsätze wie Treu und Glauben, Haftung, Garantie, die Unterscheidung zwischen Besitz und Eigentum fanden durch die Jahrhunderte ihren Weg in die moderne europäische Rechtsprechung, unter anderem im Bürgerliche Gesetzbuch (BGB). Den Gedanken der Menschenrechte zu formulieren, blieb einer späteren europäischen Geistesströmung vorbehalten: der Aufklärung. Was ihre Vertreter im 18. Jahrhundert über persönliche Freiheit, Vernunft und Toleranz schrieben, prägt bis heute die demokratischen Staaten der EU – und erwies sich schon seinerzeit als Exportschlager. Sinnigerweise wurden diese Gedanken in einem Land außerhalb Europas perfekt auf den Punkt gebracht – in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung: „Wir halten diese Wahrheiten für ausgemacht, dass alle Menschen gleich erschaffen sind und dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt wurden, worunter sind Leben, Freiheit und das Streben nach Glück.“
Dem Stewart schwirrt inzwischen der Kopf. Insgeheim ist er froh, dass er nicht noch einen englischen Fischer gefragt hat, was für ihn Europa ist. Die Antwort möchte er heute gar nicht mehr wissen.