
Nach 1945: Was aus Europas Mitte werden sollte
Der Zweite Weltkrieg ist zu Ende, Deutschland liegt in Trümmern. Die Sieger streiten darum, was mit diesem Land im Herzen Europas geschehen soll.
Bis 1942 hatten die Nationalsozialisten fast ganz Europa besetzt; in Italien herrschte ein verbündetes faschistisches Regime. Das Blatt wendete sich, als ein wesentlicher Teil der deutschen Armee bei Stalingrad aufgerieben wurde. Zudem waren die USA auf Seiten der Verbündeten gegen Hitler in den Krieg eingetreten. Von nun an stellte sich weniger die Frage, ob als vielmehr wann Hitlers Regime am Ende sein würde.

In jedem Fall wollten die drei mächtigsten Verbündeten – die USA, die Sowjetunion und Großbritannien – vorbereitet sein. Ihre Staats- und Regierungschefs Franklin D. Roosevelt, Josef Stalin und Winston Churchill trafen sich daher ab 1943 mehrmals, um ihre Pläne für ein Nachkriegsdeutschland zu diskutieren und untereinander neue Allianzen zu schmieden: auf Konferenzen in Teheran (28. November bis 1. Dezember 1943), Jalta (4. bis zum 11. Februar 1945) und Potsdam (17. Juli bis 2. August 1945).
Letztlich ging es bei diesen Konferenzen nicht allein um Deutschland, sondern immer auch um Europa. Deutschland bildet mehr oder weniger das geografische Zentrum des Kontinents; es war schon damals das Land mit den meisten Nachbarländern. Die Alliierten wollten verhindern, dass in Europas Mitte jemals wieder ein mächtiger Staat entstehen konnte. Strittig war das Wie. Schließlich hatte nur der Kampf gegen Hitler drei Staaten zusammengeschweißt, die ansonsten unüberbrückbare Ideologien trennten. Roosevelt und Churchill schwebten demokratische Neuordnungen vor, Stalin wollte einen Teil Europas in den Dunstkreis seiner kommunistischen Sowjetunion ziehen.

Die Zerstückelung Deutschlands schien ein probates Mittel, eine militärische Wiedergeburt des Landes zu verhindern und von seinen wirtschaftlichen Ressourcen zu profitieren. In Moskau wurden Varianten ausgeknobelt, die von sieben unabhängigen Einzelstaaten zu einer Vier-Staaten-Lösung reichten. Churchill bevorzugte zunächst eine Dreiteilung Deutschlands. Eine besonders extreme Version entwickelte der US-Finanzminister Henry Morgenthau.
Der nach ihm benannte Plan wollte Deutschland jede Möglichkeit verbauen, sich jemals wieder politisch und wirtschaftlich zu erholen. Das Land sollte nicht nur vollständig entmilitarisiert, sondern durch weitere Maßnahmen destabilisiert werden. Gebiete im Osten und Westen sollten der Sowjetunion und Polen bzw. Frankreich zugeschlagen werden. Die Wirtschaftszentren an Rhein, Ruhr und Saar sollten zerstört und international verwaltet werden. Was übrig blieb, sollte in zwei unabhängige Staaten, Nord- und Süddeutschland, aufgeteilt werden. Diese wollte Morgenthau zu vorindustriellen Agrarstaaten zurückstufen.
Nur für einen Moment sah es so aus, als könne diesem Plan Erfolg beschieden sein. Roosevelt und Churchill zeigten sich nicht abgeneigt – bis ihre beiden Außenminister energisch widersprachen. Auch die amerikanische Öffentlichkeit hielt nichts von Morgenthaus Vorschlägen. Die Einwände der Kritiker lauteten ähnlich wie diejenigen gegen die russischen Mehr-Staaten-Lösungen: Eine derartige Demontage Deutschlands würde neue Aggressionen schüren und damit eine neue Gefahr für Europa bergen. Der Morgenthau-Plan war damit Geschichte. Fatale Folgen hatte er nur in einer Hinsicht: als „Propagandageschenk“ an Hitler, wie es der britische Historiker Ian Kershaw formuliert. Nachdem der Plan in Deutschland bekannt geworden war, schürte das NS-Regime mit seiner Hilfe radikale Ängste vor einer Kapitulation. Das erklärt teilweise, warum Soldaten an der Front und Arbeitende in der Rüstungsindustrie alles unternahmen, um ihr Land kriegsfähig zu halten. Und warum sich, trotz der absehbaren Niederlage, kaum Widerstand gegen Hitler regte.