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Europa nach der Wahl: Was ist mit den Rechtspopulisten?

Europa nach der Wahl: Was ist mit den Rechtspopulisten?

Geschätze Lesezeit: 6 Minuten

Auch wenn sie nicht den größten Block im Europäischen Parlament bilden, gehören die rechtspopulistischen Fraktionen EKR und ID zu den Gewinnern der Europawahl 2024. Woran das liegt und ob das ein Grund zur Sorge ist, lesen Sie hier:

1. Vorläufige Ergebnisse (Stand: 8. Juli 2024)

Die Zahl der Abgeordneten im Europaparlament wurde für die anstehende Legislaturperiode 2024–2029 auf 720 Sitze festgesetzt (2019–2024: 703 Sitze). Die meisten Sitze erhält die Fraktion der Christdemokraten (EVP: 188 Sitze). Damit konnten diese Parteien etwas mehr Wähler gewinnen als im Jahr 2019. Leichte Verluste mussten die sozialdemokratischen Parteien hinnehmen. Ihre Fraktion S&D erhält 136 Sitze. Deutliche Stimmverluste verzeichneten grüne und liberale Parteien: Mit 54 und 75 Sitzen bilden sie schmale Blöcke in der parlamentarischen Sitzordnung. Dagegen legten die Europäischen Konservativen und Reformer (EKR) und die Fraktion Identität und Demokratie (ID) deutlich zu. In beiden Fraktionen sammeln sich Abgeordnete aus nationalkonservativen, EU-kritischen und rechtspopulistischen Parteien europäischer Staaten. 

Neuer Block rechtsaußen 

Nach ersten Auszählungen Ende Juni hätte die EKR 83 Sitze (Wahl 2019: 69 Sitze) und die ID 58 Sitze (Wahl 2019: 49) erhalten. Durch einen Coup des ungarischen Regierungschefs Orbán, des amtierenden EU-Ratspräsidenten, hat sich die Situation entscheidend geändert: Er sammelte 84 Abgeordnete in seiner neuen Rechtsaußen-Fraktion „Patrioten für Europa“, darunter Politiker aus den Parteien Fidesz (Ungarn), Rassemblement National (Frankreich) und der FPÖ. Die neue Koalition bildet nun im EU-Parlament den stärksten Block hinter Christdemokraten und Sozialdemokraten. An vierter Stelle steht nun die EKR unter Führung von Georgia Meloni, Italiens rechtsextremer Regierungschefin. Wo sich Deutschlands AfD positioniert, ist noch offen (Stand 10. Juli 2024). 

Rechtspopulisten vorn 

In einigen Staaten konnten rechtspopulistische Parteien die Europawahl für sich entscheiden, so in Italien, Belgien und Frankreich. In Frankreich gewann die europakritische Rassemblement National von Marine Le Pen 31 Prozent der Stimmen. Die demokratische Koalition von Ministerpräsident Macron lag weit dahinter mit 14,6 Prozent. Auch in Österreich schlug die rechtspopulistische FPÖ mit 25,4 Prozent die konservative Regierungspartei ÖVP (24,5 Prozent) und die Sozialdemokraten (23,2 Prozent). In Polen lag die links-konservative Koalition des neuen Regierungschefs Tusk mit 37,1 Prozent knapp vor der nationalkonservativen PiS (36,2 Prozent).

2. Wie ist der Rechtsruck zu erklären?

Das Ergebnis der Europawahl entspricht einer Tendenz, die in vielen Mitgliedsstaaten der EU zu beobachten ist und medial als „Rechtsruck“ bezeichnet wird. In Deutschland beispielsweise ist die AfD seit 2017 im Bundestag und außerdem in fast allen Landtagen vertreten, ausgenommen Bremen und Schleswig-Holstein (Stand: Juli 2023). In Österreich liegt die FPÖ bei Meinungsumfragen weit vorn. Ungarns Regierungschef Orbán gilt als extrem rechtskonservativ. Im ersten Wahlgang der vorgezogenen Parlamentswahlen in Frankreich lag die rechtsnationale Politikerin Le Pen vorn (30. Juni 2024).

Dieser Rechtspopulismus ist kein neues Phänomen. Die Republikaner machten bereits in den 1980er-Jahren mit fremdenfeindlichen Parolen in der BRD von sich reden, die Front National unter dem Vorsitz von Jean-Marie Le Pen seit den 1970ern. Die FPÖ gibt es seit den 1950er-Jahren.

Doch in der jüngeren Vergangenheit prägen rechtspopulistische Positionen immer stärker das öffentliche Meinungsbild. Die österreichische Sprachforscherin Ruth Wodak hat beobachtet, dass inzwischen Standpunkte als „normal“ wahrgenommen würden, die vor zehn oder 15 Jahren noch als undenkbar oder gar unaussprechlich eingestuft worden seien: Nationalismus, Verunglimpfung demokratischer Prinzipien, Fremdenfeindlichkeit, autoritäre Führung (siehe „Rechtspopulistische Diskursverschiebungen“: Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de).

Ein Grund dafür sind aktuelle Krisen oder kritische Situationen wie Klimawandel, Krieg, Energiekrise, Inflation und Migration. Rechtspopulisten dramatisieren diese Bedrohungsszenarien bis hin zu Verschwörungstheorien – und versprechen für die komplexen Probleme einfache Lösungen: neue Ordnung und starke Führung. Das alles geschieht unter den Vorzeichen der Ausgrenzung: Juden, Muslime, Homosexuelle beispielsweise werden zu Feindbildern. Der Mechanismus dahinter: Der allgemeinen Verunsicherung das Gefühl „Wir gegen die anderen“ entgegenzusetzen. 

Falschnachrichten spielen dabei eine tragende Rolle. Sie werden bewusst eingesetzt, um Ängste zu schüren und „die Anderen“ durch Lügen und Beleidigungen zu verunglimpfen.

3. Wie schlimm ist das?

Rechnet man alle demokratischen Parteien vom linken bis zum rechten Spektrum zusammen, kommen diese auf 499 Sitze gegenüber 162 Sitzen für die Rechtspopulisten. Und es gibt auch gegenläufige Tendenzen. In Deutschland ging die CDU als klarer Sieger aus der Wahl hervor (30 Prozent). Die AfD lag abgeschlagen dahinter mit 15,9 Prozent – aber immer noch vor den übrigen demokratischen Parteien SPD, Grüne, Bündnis Sarah Wagenknecht, FDP, Die Linke. In Spanien erzielten die Christdemokraten (Partido Popular) und die sozialliberale Partido Socialista Obrero Español (PSOE) bei den Europawahlen einen großen Vorsprung vor der rechtspopulistischen VOX-Partei. Ähnlich sah es in Portugal aus. In Griechenland gewannen ebenfalls die Konservativen. Bei den Parlamentswahlen 2023 in Polen wurde die nationalkonservative Partei PiS durch ein Oppositionskoalition abgelöst, die unter Ministerpräsident Donald Tusk die demokratische Rechtsstaatlichkeit neu etablieren will. Und in Frankreich mobilisierte das gute Abschneiden von Le Pen die Wähler: Bei einer ungewöhnlich hohen Wahlbeteiligung siegte überraschend das Linksbündnis, Le Pen landete auf Platz drei.

Ruth Wodak sieht kein grundsätzliches Abwandern der öffentlichen Meinung nach rechts. Es handele sich vielmehr um eine Polarisierung zwischen extrem rechten und demokratischen Positionen. Allerdings werde diese Polarisierung sowohl durch die neuen soziale Medien als auch durch die klassischen Medien vorangetrieben. „Immer neue Provokationen und Skandale lassen sich als Schlagzeilen gut verkaufen und verdrängen so andere wichtige Informationen“ (Ruth Wodak, „Rechtspopulistische Diskursverschiebungen“: Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de).

Obwohl mit der AfD in Deutschland eine rechtspopulistische Partei das zweitbeste Ergebnis bei den Europawahlen erhielt, bleiben die großen Parteien gelassen. Die Analysen der Konrad-Adenauer-Stiftung (CDU), Friedrich-Ebert-Stiftung (SPD) und Friedrich-Naumann-Stiftung (FDP) kommen gleichermaßen zu dem Schluss, dass die politische Mitte in der EU stabil bleibe. Es gebe ein klares Votum zur europäischen Zusammenarbeit und demokratischen Werte.

Fakten zur Europawahl 2024

Das Europäische Parlament wird alle fünf Jahre direkt gewählt. 2024 fanden die Wahlen vom 6. bis 9. Juni statt. Wahlberechtigt in den 27 EU-Mitgliedsstaaten waren etwa 360 Millionen Menschen. In Deutschland, Österreich, Belgien und Malta durften auch die Jugendlichen ab 16 Jahren ihre Kreuze auf den Wahlscheinen machen. In Griechenland durfte ab 17 Jahren, in allen anderen Staaten ab 18 Jahren gewählt werden. Die Wahlbeteiligung war gegenüber dem Wahljahr 2019 leicht gestiegen, dümpelte aber nach wie vor europaweit bei 50 Prozent. Die höchste Wahlbeteiligung verzeichneten Belgien und Luxemburg (90 bzw. 82 Prozent); in beiden Staaten herrscht Wahlpflicht. Es folgen Malta (73 Prozent) und Deutschland (knapp 65 Prozent). Die Schlusslichter bilden Kroatien (ca. 21 Prozent), Bulgarien und Lettland (beide um die 34 Prozent).

Quellen:

  • https://elections.europa.eu/de/after-the-elections/
  • https://results.elections.europa.eu/de/wahlbeteiligung/
  • https://results.elections.europa.eu/de/wahlergebnisse/2024-2029/
  • https://results.elections.europa.eu/de/Tools/vergleichs-tool/
  • https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/diskurskultur-2023/541849/rechtspopulistische-diskursverschiebungen/
  • https://de.statista.com/statistik/daten/studie/606307/umfrage/sitze-der-afd-in-den-landtagen-der-bundeslaender-in-deutschland/
  • https://results.elections.europa.eu/de/nationale-ergebnisse/deutschland/2024-2029/
  • https://results.elections.europa.eu/de/spanien/
  • https://www.kas.de/de/monitor-wahl-und-sozialforschung/detail/-/content/analyse-der-europawahl-in-deutschland-am-9-juni-2024
  • https://www.fes.de/europawahl
  • https://www.freiheit.org/de/die-proeuropaeische-mehrheit-kontert-erfolgreich-den-angriff-von-rechts